Spielräume Addio a Giovanna Marini

Mi, 15.05.  |  17:30-17:55  |  Ö1
Musik aus allen Richtungen mit Mirjam Jessa. Die couragierte Mutter der italienischen Folkmusik, Sängerin, Musikethnologin, Komponistin, Aktivistin, vor allem „cantastorie“ – singende Geschichtenerzählerin, ist nicht mehr

Ausgerechnet am 8. Mai ist sie gestorben, dem Tag, an dem das Ende des Zweiten Weltkriegs gefeiert wird als Tag der Befreiung vom Naziterror. Das wirkt wie ein letzter kräftiger Schlussakkord eines Lebens, das bis zuletzt geprägt war von ihrem vitalen Einsatz für Musik und Gerechtigkeit. Ihr Ohr galt jenen, die sonst nicht gehört wurden, den Menschen am Land, den Arbeiter:innen in Fabriken und Feldern, den Arbeitsemigranten, den unterdrückten Frauen.Doch dieses lebenslange Engagement war ihr nicht in die Wiege gelegt. 1937 in Rom in eine bürgerliche Musikerfamilie der vierten Generation geboren, in der über nichts anderes als Musik geredet wurde, absolvierte sie zunächst das Studium der klassischen Gitarre am Konservatorium Santa Cecilia in Rom und perfektionierte sich beim berühmtesten Gitarristen jener Zeit, dem Spanier Andrés Segovia, bevor sie links abbog in Richtung mündlich tradierte Musik, Protestlied, Cantautrice und Volksmusikforschung. Damals, Anfang der 60er-Jahre, geriet Giovanna Marini in ein progressives Ambiente aus Dichtern, Denkern, Musikwissenschaftlern, Autoren wie Italo Calvino und Filmemachern wie Pier Paolo Pasolini, der sie zutiefst beeinflusste. 1962 gründete sie zusammen mit vielen anderen das Ensemble Nuovo Canzioniere Italiano, dem es um die Erforschung, Bewahrung und Erneuerung der mündlich tradierten Lieder Italiens ging. Schon damals erlernte Marini auch die Kunst der Cantastorie oder Cantacronache, die einst von Ort zu Ort zogen, um Neuigkeiten singend vorzutragen. Ihre eigenen, epischen gesungenen Balladen sind legendär. Giovanna Marini stand immer im Zentrum dieser Bewegung, die konsequenterweise eine starke politische Komponente hatte: 1964 beim Skandalkonzert „Bella Ciao“ beim Festival „Dei Due Mondi“ in Spoleto, in der sich der im Parkett sitzende italienische Adel und die anwesenden Politiker von den antifaschistischen Texten direkt angegriffen fühlten, was in versuchter Zensur und einer parlamentarischen Anfrage mündete; Lied des Anstoßes: „O Gorizia, tu sei maledetta“ („O, Gorizia, du bist verflucht“). 1966 beim ersten Volkslied Festival, das Dario Fò in Mailand veranstaltete: „Ci ragiono e canto“ („Ich denke darüber nach und singe“). 1979 gründete sie mit drei anderen Sängerinnen ihr Quartetto Vocale. Ihre wissenschaftliche und didaktische Arbeit setzte sie am Institut Ernesto de Martino fort und in Rom an der von ihr 1975 mitbegründeten Scuola popolare di musica di Testaccio. Was Giovanna Marini für das kulturelle Gedächtnis Italiens geleistet hat, für die Musik und Musikethnologie und für Generationen von Musikerinnen und Musikern, denen sie Beispiel war, kann nicht hoch genug gewertet werden. Nie ging es ihr um Erfolg, immer darum, etwas Wesentliches beizutragen und – wie sie selbst sagt – Geschichten zu erzählen.Vor fünf Jahren reiste sie noch einmal in den von ihr geliebten Salento nach Kalabrien für einen Dokumentarfilm, der über sie gedreht wurde. „Als Giovanna aus dem Salento zurückkehrte“, erinnert sich der Musikologe Alessandro Portelli in „Il Manifesto“, schrieb sie einen Artikel, der mit den Worten begann: „Früher war ich auf der Suche nach den Klängen, jetzt suche ich die Menschen. Denn die Identität, die Menschen durch Klänge zum Ausdruck bringen, ist die Grundlage aller Politik.“

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