Gedanken für den Tag Der geprüfte Mensch

Sa, 15.06.  |  6:57-7:00  |  Ö1
von Ahmad Milad Karimi, Religionsphilosoph und Islamwissenschaftler

Abraham, wie er im Koran ebenso wie in der Hebräischen Bibel geschildert wird, scheint in vielfacher Hinsicht ein besonderer Mensch gewesen zu sein, aber er war auch besonders geprüft. Der eine Gott, dem er sich voller Demut gebeugt hat, fordert von ihm, sein eigenes Kind zu opfern. War nicht sein Herz gebrochen, sein Glaube erschüttert? Abraham nimmt seinen Willen vor dem Willen Gottes zurück und gesteht, dass er dem Befehl Gottes folgen wird – fraglos. Mein Atem bleibt still. Ich will ihm zurufen, tu es nicht. Aber Abraham legte den Kopf seines geliebten Sohnes auf den Stein und wollte ihn abschlachten – im Namen Gottes. Mein Atem zittert. Doch Gott greift ein und beschützt das Kind vor seinem Vater, so die Erzählung. Die Frage bleibt: Was wollte Gott prüfen, blinde Demut, Bereitschaft, sein Kind zu ermorden, Menschenopfer, bedingungslose Gefolgschaft? Hätte Abraham nicht entschieden „Nein!“ sagen müssen? Wäre denn die Hölle als Strafe für seinen Widerstand nicht besser als ein Paradies, wenn ich es mit dem Preis der Ermordung meines Sohnes erlangen würde? Ist nichts heilig für Gott, außer seinem eigenen Befehl? Abraham hat die Prüfung der Demut bestanden, ein Mensch zu sein, der alles tut, was ihm sein Gott befiehlt. Aber zugleich hat er die Prüfung des Widerstandes nicht bestanden, sein Kind zu beschützen – vor seinem grauenhaften Bild eines Willkürgottes. Was ist denn heiliger als der Schutz eines unschuldigen Kindes?Abraham bleibt für viele Menschen eine religiöse Krise, eine die uns bis heute berührt, anzieht und anwidert, aber nicht loslässt. Wenn im Islam dieses Ereignis gefeiert wird, dann nicht als Opferfest im Sinne des Tieropfers, sondern als das Nicht-Opfer eines Menschen, um Bewahrung der Unantastbarkeit menschlichen Lebens, das mit der Frage verbunden ist, was es heißt, ein Mensch zu sein.

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