Gedanken für den Tag Spuren des Holocaust

Sa, 01.02.  |  6:57-7:00  |  Ö1
Anna Goldenberg, Journalistin und Autorin, zum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz.

Die Geschichte meiner Großmutter ist auch eine Geschichte des Essens. Wenn sie über die Zeit im Konzentrationslager gesprochen hat, ging es immer um den Hunger. Sie hat ständig ans Essen gedacht, immer geschaut, ob irgendwo etwas heruntergefallen oder übriggeblieben ist. Am Feld hat sie heimlich rohe Zwiebeln und Kartoffeln gegessen. Ein bisschen etwas hat sie in ihrer Unterwäsche versteckt und ins Lager geschmuggelt, für ihre Mutter und ihre Schwester.Das hat Spuren hinterlassen. Nach der Befreiung, da war sie 16, hat Helga schnell an Gewicht zugelegt. Dann hat sie sich nicht mehr gefallen. Also hat sie begonnen, auf ihre Figur zu achten. Das ist ihr ein Leben lang geblieben.Ich finde alte Kalender, in denen sie jeden Tag ihr Gewicht notiert hat. Es schwankt über Jahre nur um ein paar hundert Gramm. Sie war wirklich sehr diszipliniert. Zugleich ist ihr der Respekt vor dem Hunger immer geblieben. In der Küche finden wir hunderte Gläser voll Marmelade. Selber war Helga keine große Köchin. Die Gläser hat sie geschenkt bekommen – und immer aufgehoben. Man weiß ja nie.Nach mehreren Wochen des Räumens wirkt die Wohnung meiner Großmutter noch immer so voll wie zu ihren Lebzeiten. Aber wir haben für uns Ordnung geschaffen, in ihren Kästen, Dokumenten und irgendwie auch in den Erinnerungen. Fremde Münzen, alte Briefe, selbstgemachte Marmelade aus dem Jahr 2002. Die Spuren des größten Zivilisationsbruchs in der Geschichte der Menschheit sind banal. Es ist so leicht, sie zu übersehen, sie nicht zu verstehen. Zugleich sind die vielen kleinen Schritte, die dazu führen, dass Menschen zu Tätern werden, oft kaum sichtbar. Da genau hinzuschauen, das ist jetzt meine Verantwortung. Versprochen, Helga.

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